Am Sonntag 8. Nov. 2020 habe ich im Deutschlandfunk diesen Beitrag gehört. Die Gedanken sind aus meiner Sicht klärend und hilfreich, ganz unabhängig von der Konfession. Denn die Pandemie hat tiefgreifende Effekte: „Es vermischt sich gerade unreflektiert die Angst vor der undurchschaubaren Dynamik der Pandemie, die jeden treffen könnte, mit der uns existentiell gegebenen Angst vor jenem Tod, der uns eines Tages sicher alle treffen wird.“, so die Autorin Dr. Angelika Daiker. Die Auseinandersetzung damit lohnt, um die eigenen Emotionen zu sortieren, das Wunder des Lebens zu schätzen und ganz persönlich Antworten zu finden.

Die Kunst des guten Sterbens.

Gedanken zu einer zeitgemäßen „Ars moriendi“

Der Tod gehört zum Leben dazu. Gerade jetzt, während der Corona-Pandemie, werden wir oft daran erinnert. Das tut weh. Und es bietet die Chance, endlich die Kunst des Sterbens zu kultivieren.

„Die Vögel sangen im Morgengrauen. Fang nochmals an höre ich sie singen. Verweile nicht bei dem was vergangen ist oder noch kommen wird….

Da ist ein Riss, ein Riss in allem. Das ist der Riss, durch den das Licht einfällt.“

Leonhard Cohen

Es ist ein Riss in allem. Unser ganzes Leben ist von Rissen durchzogen, Trennungen, Ängste, Krankheit, Tod. Auch Corona ist ein gewaltiger Riss, der unsere ganze Welt durchzieht und erschüttert.

„Das ist der Riss, durch den das Licht einfällt“, so singt es der 2014 gestorbene Liedermacher Leonhard Cohen in seinem Lied „Anthem“. 

Der Corona-Riss macht Angst

Was für eine Behauptung des Sängers: Gerade der Riss sei die Stelle, an der das Licht hereinfällt – „That’s how the light gets in“.

Der Corona-Riss macht einfach Angst, ist bedrohlich, weil er uns die Möglichkeit zu sterben auf unerträgliche Weise nahebringt. Ein Riss, durch den Licht hereinfällt?

Ja! Ich höre in diesem Lied auch eine Zusage, vielleicht eine Erfahrung, die der Sänger gemacht hat. Eine Erfahrung, die viele Menschen im Rückblick auf ihre Lebensbrüche machen. Dass auch durch den Riss des Todes Licht in unser Leben fallen kann, erfahren wir in der Begleitung sterbender Menschen.

Die Kunst des Sterbens kultivieren

An diese Erfahrung könnten wir jetzt, in einer von Todesängsten erschütterten Coronazeit anknüpfen, um eine neue Kunst des guten Sterbens, eine neue „Ars moriendi“ zu finden.

Es wird uns bewusst, dass es eine Kunst ist, gut sterben zu können, gut sterben zu dürfen, in Würde, begleitet, ohne Angst. Es war die Hospizbewegung, die diese als tiefes Menschheitswissen in uns liegende Kunst des Sterbens kultiviert hat.

Nach fast 30 Jahren aktiv in der Hospizbewegung schaue ich gerade fassungslos darauf, was unsere Gesellschaft in wenigen Monaten an hospizlicher Sterbekultur verloren hat. Dabei hatte sich schon so vieles in eine gute Richtung entwickelt:

  • Sterbende wurden bis zum Ende ihres Lebens würdevoll begleitet.
  • Angehörige waren ermutigt, ihren Teil in der Sterbebegleitung zu übernehmen, so dass viele Menschen in ihrem privaten Umfeld sterben konnten.
  • Hospize und Palliativstationen als Orte des begleiteten Sterbens bekamen ein großes Ansehen
  • Und: Viele setzten sich frühzeitig mit ihrem eigenen Sterben auseinander, indem sie Patientenverfügungen erstellten und mit ihren Angehörigen darüber auch sprachen.

Den Tod als Teil des Lebens begreifen

Es schien so, als ob die Hospizbewegung unseren Umgang mit dem Sterben neu belebt hätte. Wir erfuhren, wie sinnstiftend es ist, Sterbende zu begleiten. Den schmerzlichen Riss des Todes wahrzunehmen, machte uns wacher für das Licht, mitten im Leben.

Der Tod schien weniger furchtbar, wenn wir ihn als Teil des Lebens begriffen. Wir wagten es, weil wir in der Sterbebegleitung ermutigt wurden.

Wir sahen auch das Licht, das durch den Riss fiel. Wir sahen es auf den Gesichtern der Verstorbenen. Und nach durchwachten Nächten am Sterbebett hatte sich auch der Blick auf unser eigenes Leben verändert. Und wir kamen am Morgen, wenn die Vögel sangen, dankbar und staunend zurück in unser Leben.

Wir hatten von denen gelernt, die uns im Übergang zu einem anderen Leben voraus waren. „Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten“ so beschreibt es Hilde Domin in einem Gedicht:

„Jeder der geht
belehrt uns ein wenig
über uns selber.
Kostbarster Unterricht
an den Sterbebetten.


Alle Spiegel so klar
wie ein See nach großem Regen,
ehe der dunstige Tag
die Bilder wieder verwischt.

Nur einmal sterben sie für uns,
nie wieder.
Was wüssten wir je
ohne sie?

Ohne die sicheren Waagen
auf die wir gelegt sind
wenn wir verlassen werden.
Diese Waagen ohne die nichts
sein Gewicht hat.

Wir, deren Worte sich verfehlen,
wir vergessen es.
Und sie?
Sie können die Lehre
nicht wiederholen.

Dein Tod oder meiner
der nächste Unterricht:
so hell, so deutlich,
daß es gleich dunkel wird.“

(Hilde Domin)

Wie wollen wir sterben?

Mit Corona scheint alles, was wir über das Geheimnis des Todes erfahren und gelernt haben, keine Bedeutung mehr zu haben! Die Angst vor dem Sterben ist mit voller Wucht zurückgekommen. Horrorbilder von Sterbenden haben sich tief eingebrannt. So wollen wir nicht sterben.

Das zu vermeiden, dafür nahmen wir vieles in Kauf. Auch, dass Sterbende in den Pflegeeinrichtungen alleine gelassen wurden, dass Angehörige ihre Liebsten nicht begleiten durften und dass sogar Hospizgäste aus dem Krankenhaus kommend in Quarantäne gehen mussten.

Alles sollte getan werden, um Ansteckung und massenhaftes Sterben zu vermeiden. Heute, mitten in der zweiten Infektionswelle sind wir ratlos, wohin uns die gebotenen Strategien führen werden.

Ich habe Respekt vor denen, die politische Entscheidungen treffen müssen. Wir dürfen nichts unversucht lassen, einander zu schützen. Aber als Hospizfrau bin ich überzeugt, dass die Pandemie nicht nur eine Krisenbewältigung zur Vermeidung von Infektionen verlangt.

Sterben ist eine Realität

Es braucht dringend ein differenziertes Unterscheiden unserer Ängste, damit wir einander nicht von wichtigen Lebensräumen abschneiden.

Es vermischt sich gerade unreflektiert die Angst vor der undurchschaubaren Dynamik der Pandemie, die jeden treffen könnte, mit der uns existentiell gegebenen Angst vor jenem Tod, der uns eines Tages sicher alle treffen wird.

Täglich sterben Menschen mit und an Corona, an Krebs, an Herz- Kreislaufversagen, durch Suizid, Mord, Unfall und an Hunger – vor allem auch Kinder. Das Risiko der Sterblichkeit besteht nicht nur für Risikogruppen. Wir alle sind sterblich!

Wenn wir Abstand halten, Hände waschen, Alltagsmaske tragen und häufig lüften und hoffen, bald einen Impfstoff zu finden, scheint sich die Erwartung einzuschleichen, wir könnten so auch die Tatsache unserer Sterblichkeit in den Griff bekommen.

So laufen wir doch Gefahr, die Realität des Sterbens auszublenden – und liefern uns damit der unfassbaren Pandemie-Angst noch mehr aus.

Wo Menschen die Angst vorm Tod verlieren

Es ist gerade jetzt an der Zeit, die uns allen existentiell gegebene Sterblichkeit bewusst anzunehmen. Die Hospizbewegung hat uns gelehrt, dass dieser bewusste Umgang mit unserer Sterblichkeit ein Weg ist, gut mit den Todesängsten umzugehen. So könnten wir mit der Angst vor der Unfassbarkeit der Pandemie umgehen.

Im Gästebuch eines Hospizes las ich den Satz:

„Hier hat der Tod für mich seinen Schrecken verloren.“

Ausgerechnet an dem Ort, an dem gestorben wird, können Menschen ihre Angst vor dem Tod verlieren! Sterblich sein dürfen und zu vertrauen, dass es in Würde geschehen darf, verwandelt die Angst vor dem Tod.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“

So wird in Psalm 90 darum gebetet, fähig zu werden, die eigene Endlichkeit anzunehmen. Auf dass wir klug, weise werden. Unser Horizont wird weiter und unser Leben bekommt mehr Sinn und Erfüllung, wenn wir unsere Sterblichkeit annehmen

Als der Tod noch mittanzte

Das frühe Mittelalter hatte eine „Kunst des Sterbens“ – lat. Ars Moriendi entwickelt – und den Tod gebändigt, indem seine Präsenz z.B. in künstlerischen Darstellungen von Totentänzen Teil des Lebens war.

Im Reigen der Menschen aller Stände tanzte der Tod immer mit. Er war immer präsent, aber im Bemühen um ein sinnerfülltes Leben und im Blick auf das Jenseits wurde ihm die Dramatik genommen. 

Wir stehen heute nicht mehr in einem allen zugänglichen Horizont von gläubiger Zuversicht. Aber die in der Ars Moriendi beschriebenen Spannungsfelder kennen wir:

  • wir kennen den Zwiespalt zwischen Unglauben und Glauben, vielleicht auch die Not, unseren Zweifel nicht aussprechen zu können
  • wir kennen das Hin- und Hergerissenwerden zwischen Verzweiflung und Hoffnung
  • wir kennen die Sehnsucht nach Liebe und erfahren, die egoistische Habsucht als mächtige Triebkraft,
  • wir kennen das redliche Bemühen um Geduld und verstricken uns doch in der zerstörerischen Kraft einer Ungeduld, die uns immer antreibt
  • und wir ahnen, dass wir in der Haltung der Demut gedeihlicher miteinander leben könnten als im Bemühen um hochmütige Selbstsicherheit

Wir wissen nicht, wie wir die Pandemie überstehen werden, aber wir können darum bitten, mit diesen inneren Spannungsfeldern umzugehen.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Ps. 90,12)

Hilfestellungen in unserer Zeit

Wir können miteinander ins Gespräch kommen über Fragen wie: 

  • Was glaube ich und welcher Zweifel treibt mich um und will ausgesprochen werden?
  • Was erfüllt mein Herz mit Freude und was belastet mich?
  • Wen liebe ich, wer liebt mich und wessen Tod fürchte ich am meisten?
  • Was habe ich noch nicht gelebt und würde ich noch gerne leben?
  • Was gibt meinem Leben Sinn und wofür bin ich dankbar?

Meine Hoffnung ist es, dass wir nicht in Angst und Abstand erstarren, sondern einander Fragen zumuten, dass wir Erfahrungen und Ängste teilen, Junge mit Alten, Eltern mit ihren Kindern, Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Schülern und einander in Toleranz die Sehnsucht nach Leben zugestehen. 

Wir leben gerne. Wir haben noch Wünsche und Träume offen. Wir haben Menschen an unserer Seite, für die wir leben wollen. Wir wollen diese Pandemie überleben, ja, das wollen wir!

Auch Menschen, die an einen Himmel glauben, wollen dafür nicht an Corona sterben. Auch gläubige ältere Menschen meiden deshalb Kontakte.

„So schön wie hier, kann’s im Himmel gar nicht sein!“

Dieser Satz von Christoph Schlingensief scheint für viele zu stimmen. An manchen Tagen stimmt er auch für mich. Aber in mir gibt es auch eine Stimme, die sagt: Doch, im Himmel ist es noch viel schöner.

Lächelnd sterben

Manche Sterbende, die ich begleitet habe, hatten auf ihren Gesichtern ein Leuchten, das mich neugierig darauf macht, was sie gesehen haben. Manchmal strahlen sie einen tiefen Frieden aus, der mich zuversichtlich macht, dass sie angekommen sind.

Das entspannte Lächeln auf ihrem Gesicht bestärkt meine Hoffnung, dass wir das Mühselige, Gebrochene, das Ungerechte und das Leid dieser Erde eines Tages transzendieren werden. 

Ich glaube daran, dass das Sterben kein Abbruch und kein Untergang ist. Es ist Abreise und Übergang in eine neue Existenz bei Gott, im Licht, bei den geliebten Menschen, die schon gestorben sind.

„Was ist sterben?“

Das Geheimnis des Übergangs in ein anderes Leben lässt sich nicht lüften, wir können es nur ahnungsweise in Bildern fassen. Vielleicht so wie es der Missionar Charles Henry Brent einmal formuliert hat: 

„Was ist sterben? Ein Schiff segelt hinaus und ich beobachte, wie es am Horizont verschwindet. Jemand an meiner Seite sagt: „Es ist verschwunden.“

Verschwunden wohin? Verschwunden aus meinem Blickfeld – das ist alles.
Das Schiff ist nach wie vor so groß wie es war als ich es gesehen habe.
Dass es immer kleiner wird und es dann völlig aus meinen Augen verschwindet, ist in mir, es hat mit dem Schiff nichts zu tun.

Und gerade in dem Moment, wenn jemand neben mir sagt, es ist verschwunden, gibt es andere, die es kommen sehen, und andere Stimmen, die freudig aufschreien: „Da kommt es!“ Das ist sterben.“

Autorin: Dr. Angelika Daiker. Sie studierte in Tübingen, München und Wien. Sie promovierte in Wien bei Prof. Dr. Michael Zulehner. Die gekürzte und überarbeitete Fassung ihrer Dissertation erschien 1999 unter dem Titel „Über Grenzen geführt – Leben und Spiritualität der Kleinen Schwester Magdeleine“ im Schwabenverlag. Daiker ist Pastoralreferentin und leitete von 2007- 2017 das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie konzeptionell aufgebaut hat. Als Autorin, als Trauerbegleiterin und als Dozentin für Sacred Dance wird sie zu Vorträgen und Seminaren im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung, zu Themen der Spiritualität und zu Tanzseminaren eingeladen.

Den Originaltext finden Sie hier: https://xn--katholische-hrfunkarbeit-xoc.de/?id=3344

Geteilt von Dr. Anja Henke, Expertin für Unternehmenswachstum und Geschäftsführerin

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