Während alle gebannt darauf warten, dass wieder Normalität einzieht, geht unter, welche Chancen für positive Veränderung die Coronavirus-Krise mit sich bringt. Die Krise hat weltweit geschockt und deutliche Grenzen aufgezeigt. Sie hat uns als Menschen auf uns selbst zurückgeworfen und unsere innere Haltung transparent gemacht, unsere Mentalität und Denkweisen. Genau hier liegen die Schlüssel für eine bessere Zukunft. Der Umgang mit anderen Menschen und Meinungen sowie die Interpretation von Fakten sind allesamt Ausdruck der inneren Haltung. Daher greift der Begriff Diversity viel zu kurz, wenn er auf Fragen der Rasse oder des Geschlechts beschränkt ist. Diversity betrifft die Grundfeste des menschlichen Denkens. Das Bewusstsein darüber ist der zentrale Schlüssel für den Weg aus der Krise und eine rasche wirtschaftliche Erholung. Denn Wachstum und Erneuerung sind nur jenseits etablierter und scheinbar normaler Denkweisen zu finden.
Der innere Wandel ist überfällig
Die globale Wirtschaft ist von der Coronavirus-Pandemie schwer getroffen. Die Daten der OECD gehen in Deutschland von einem BIP-Minus von 6,6 Prozent aus, sofern keine zweite Infektionswelle aufkommt. Sonst wird das Loch noch größer. Das ist die schlimmste Rezession seit 100 Jahren. Der Staat investiert massiv in Unternehmen, Familien, Technologien, um das Schlimmste zu verhindern. Der Weg aus der Krise hängt davon ab, wie hoch die neu aufgenommenen Schulden sind und wie das Wirtschaftswachstum sich entwickelt. Die zentrale Bedeutung der Unternehmen ist ebenso klar wie die der Politik. Beide müssen zusammenspielen, getragen von einem gesellschaftlichen Konsens.
Doch während nun alle über einen weiteren Verlauf der Krise als V, steiler Einbruch und ebenso steile Erholung, oder L, steiler Einbruch und langsame Erholung, diskutieren, geht unter, welche Veränderungen wirklich in der Tiefe erforderlich sind.
Die Krise zeigt uns genau die Themen, die wir als Menschheit schon lange hätten angehen müssen. Das sind keine äußeren, sondern innere Themen, maßgeblich unser Denken. Das steckt aller technologischen Fortschritte zum Trotz an vielen Stellen in den Kinderschuhen. Diese Seite des Menschseins haben wir verdrängt, zum Teil in Hybris, zum Teil in Ignoranz, zum Teil in hektischer Orientierungslosigkeit oder schlicht in bequemen Komfortzonen.
Es sieht so aus, als käme alles das massiv an die Oberfläche, was schon lange auf eine Betrachtung wartet und sonst im Alltag schnell wieder untergeht. Dabei stehen einzelne Ereignisse repräsentativ für Denkweisen, die sich darunter verbergen. Diese Denkweisen haben gemeinsam, dass sie mit „Diversity“ zu tun haben, besser gesagt dem Fehlen davon. Das führt direkt zum ersten Punkt des substanziellen inneren Wandels, der nun ansteht.
Diversity erlaubt keinen Rassismus
Die Welle, die durch den Tod von George Floyd durch die Welt geht, spricht davon, dass es nun genug ist mit Rassismus, einem Ausdruck von fehlgeleitetem Denken und getäuschter Wahrnehmung. Dieses tragische Ereignis, das in den USA und weltweit eine Welle der Empörung auslöst, ist nur die Spitze des Eisbergs. Nach wie vor sind Gedanken verbreitet, dass bestimmte Menschen (weißhäutige Kaukasier) mehr Wert sind als andere Menschen („people of colour“). Das ist bedrückend und zeigt, wie wenig entwickelt unsere Vorstellungen sind.
In Deutschland macht sich dieses fehlgeleitete Denken mit dem Ruck nach rechts bemerkbar. Denkweisen wie Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus werden daraus gespeist. Das ist eine Schande für unser Land und ein Armutszeugnis für den Lernerfolg, der aus unserer eigenen wie auch der globalen Geschichte resultiert.
Das ist auch ein Armutszeugnis unserer Bildung, der es nicht gelingt, den Kindern die Grundsätze des Denkens und die Funktionsweise des Gehirns beizubringen. Stattdessen werden Kinder mit den Denkweisen gefüttert, welche die etablierte und „erwachsene“ Welt für gut und richtig hält. Dazu gehört, was anzustreben ist und was nicht, was möglich ist und was nicht. In dem Zug wird alles, was anders ist und aus der Norm fällt, abgewertet, seien es Menschen mit ihrem Aussehen, ihren Meinungen oder Ideen. Bei diesen alltäglichen und scheinbar so normalen Bewertungen beginnen die Verzerrungen im Denken und in der Wahrnehmung, in der Schule, auf der Straße, in den Familien.
Diversity nutzt verschiedene Lösungsstrategien
Das Geschäftsleben ist in Sachen fehlgeleitetes Denken keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Nach wie vor herrscht hier eine äußerst verzerrte Wahrnehmung, welche die traditionell männliche Lösungsstrategie bevorzugt: Laut sein, anpacken, handeln. Ob das Handeln zielführend ist oder nicht, ist erst einmal sekundär.
So wird ein Manager wir Kasper Rorsted zum Manger des Jahres 2019, obwohl er Henkel mit hartem Kostenregime in Gefahr gebracht hat. Nun bei adidas wurde in der Krise das Denken dieses Top-Managers deutlich, etwa durch das Aussetzen von Mietzahlungen und die Inanspruchnahme staatlicher Kredite. Dabei ist Herr Rorsted ist nur ein Beispiel und steht repräsentativ für viele andere.
Dieses macht- und handlungsorientierte Paradigma ist der wesentliche Grund, warum Diversity in den Unternehmen solch ein Problem ist. Die Menschen, die Probleme anerkennen und über Fragen erst einmal reflektieren, bevor sie handeln, die weibliche Lösungsstrategie, sind nicht so laut. Sie stehen weniger im Vordergrund der (getäuschten) Wahrnehmung und werden oft übersehen. Die Ideen, die von dort kommen, haben in der Geschäftswelt schlicht keine Relevanz. Davon sind Frauen und Männer betroffen.
Dass gerade Frauen und stillere Mitarbeiter den Hauptteil der Arbeit erledigen, in den Unternehmen und Familien, wird nicht gesehen oder ignoriert. Natürlich ist Selbstvermarktung wichtig. Doch ein ehrlicher Blick auf Ergebnisse statt auf Fassaden oder Machtverbindungen wäre wahrlich hilfreich und ein Zeichen von Reife. Das fehlt leider an so vielen Stellen, gerade in den Führungsetagen. So werden Ressourcen und Chancen für Wachstum in hohem Maße vergeudet.
Diversity fördert unterschiedliche Meinungen
Diversity ist nicht nur eine Sache von Rasse oder Geschlecht. Im Kern geht es um Meinungsvielfalt und Vielfalt im Verhalten. Ich habe selbst schon mehr als einmal gesehen, dass dem Top Management gute und machbare Ideen für die Zukunft präsentiert wurden, auch Lösungen für drängende Probleme. Doch die Menschen, die diese Botschaften präsentierten, egal ob aus dem Unternehmen oder von Extern, hatten meist das gleiche Schicksal: Sie wurden gefeuert.
Das Unternehmen geht dann in die nächste Runde der Restrukturierung oder in eine Fusion Der machtvoll anpackende Manager tut auf der Bühne die Alternativlosigkeit seiner Pläne kund und sagt, dass alle Opfer bringen müssen, um das Unternehmen zu retten. Bei einer solchen Strategie kann „Mann“ für alle sichtbar handeln. Der Prozess der Umsetzung ist mit hartem Management – einer Demonstration von Stärke – recht einfach und vorhersehbar gestaltbar. Die Strategie der Restrukturierung ist allseits akzeptiert. Es gibt ganze Branchen und Berufsstände, die sich nur damit beschäftigen. Wenn es dann nicht funktioniert, war eben der Markt schuld – oder die Konjunktur oder die mittlere sogenannte „Lehmschicht“.
Jetzt, auf dem Weg aus der Krise, drohen massenhafte Restrukturierungen und ein Sterben der Dinosaurier, der traditionellen Unternehmen. Die Zeichen weisen schon in diese Richtung. Das würde die wirtschaftliche Erholung erheblich verzögern. Daher ist es wichtig, das Dogma der Restrukturierung als das zu erkennen, was es ist: Eine Täuschung der Wahrnehmung und des Denkens.
Alternativen zur Restrukturierung sind vorhanden, etwa Strategien für Wachstum und Erneuerung, natürlich mit einem klarem Kostenmanagement. Solche Strategien erfordern genau die kreativen, vielleicht „spinnerten“, in jedem Fall unkonventionellen Ideen, deren Verkörperungen so gerne ignoriert oder gefeuert werden. Diese alternativen Strategien brauchen auch eine andere Form von Management, bei der Neues gewagt wird, bei der die Menschen bestärkt und Höhen wie auch Tiefen durchschritten werden. Dass das noch viel zu selten passiert, hat mit weiteren Denkweisen zu tun, die sich in der Interpretation von Fakten zeigen.
Interpretation von Fakten – Diversity oder Monokultur
Wir leben in einer Welt, die scheinbar rational auf Fakten schaut und sich daran orientiert. In der Coronavirus-Krise zeigte sich, wie unterschiedlich Fakten interpretiert werden können. Das reicht vom schnellen Handeln in Taiwan und Singapur bis zum Verleugnen der Krise in Brasilien, wo der amtierende Präsident die Infektionszahlen nur noch in seinem Sinne präsentieren wollte. So unterschieden sich die Strategien der Länder zur Bekämpfung der Virus-Infektionen erheblich. Die Folgen dieser Strategien lassen sich an den Fallzahlen und der Zahl der Toten ablesen. Das rückt die unterschiedlichen Denkweisen unbarmherzig ins globale Scheinwerferlicht, denn hier entscheidet die Interpretation der Fakten über Leben und Tod. In der Krise wäre weniger Diversity in den Strategien und ein (global) abgestimmtes Handeln hilfreich gewesen.
Fakten werden überall und alltäglich interpretiert, gerade im Business. Erledigt wird das von bestimmten Menschen, die typischerweise sehr smart sind und mathematische oder wissenschaftliche Modelle nutzen. Diese Modelle versteht kaum jemand, doch gerade das gibt dem Ganzen einen Hauch von Unfehlbarkeit. So kommt es zu bestimmten Ergebnissen. Bei der Analyse von Fakten in den Unternehmen wird häufig das gleiche Urteil gefällt: Die Kosten sind zu hoch. Also muss gespart werden. Das ist eine verbreitete Monokultur im strategischen Denken, die nur einen schmalen Handlungskorridor zulassen: Die Ausrichtung auf Effizienz.
Dieses Dogma der Effizienz, Hand in Hand mit der Restrukturierung, hat dazu geführt, dass Unternehmen kaum Resilienz gegenüber Krisen haben, denn alles hängt von einem reibungslosen Verlauf der Prozesse ab. Bei einer Störung wie dieser Pandemie bricht ein solches effizientes Unternehmenssystem wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Resilienz heißt nämlich, dass es Variationen, Ausweichmechanismen, Vielfalt gibt, seien es alternative Strategien oder Reserven oder eine Mischung davon. Diese Diversity in den Strategien fehlt nun bitterlich an vielen Stellen.
Es ist sogar noch schlimmer. Bei aller Ausrichtung auf Effizienz haben die Unternehmen sich nicht ernsthaft mit den Risiken (und Chancen) der Zukunft auseinandergesetzt. Die Vorausschau fehlt. Dabei ist die Coronavirus-Krise keine Überraschung. Der WHO-Bericht „A World at Risk“ vom September 2019 listet die Virus-Infektionen und Krankheiten, die sich in den letzten Jahren in der Welt verbreitet haben. Und die sind zahlreich.
Das alles zeigt, dass Fakten und deren Interpretation noch lange kein rationales Handeln auslösen, auch nicht in der Wirtschaftswelt.
Aus „ A World at Risk”, WHO September 2019, Seite 12
Automobilindustrie – ein Beispiel für wenig Diversity
Nehmen wir die Automobilindustrie als ein Beispiel. Diese wird von viele Interessensgruppen wie eine heilige deutsche Kuh geschützt. Daran hängen im Moment viele Arbeitsplätze. Doch das galt auch für Pferdezüchter und Kutschenbauer, als das Automobil aufkam. An einem solchen Scheidepunt steht diese Industrie nun.
Schon lange ist klar, dass nicht die ganze Welt mit dem Verbrennungsmotor deutscher Art und fossilen Brennstoffen mobil werden kann. Doch wer hat reagiert? Die deutsche Automobilindustrie hat sich auf Effizienz fokussiert – und auf PS-starke, große Modelle. Wir als Verbraucher tun das Unsere dazu, dass es noch keine Wende gibt. Doch die Aufgabe eine bessere Zukunft zu gestalten liegt bei den Unternehmen. Eigentlich ist das sogar deren Überlebensaufgabe.
Henry Ford (1863 – 1947) hat gesagt: „Wenn Sie die Leute gefragt hätten, was sie wollten, hätten sie schnellere Pferde gesagt.“ Das hat er nicht geliefert, sondern eine Innovation, die weit über die Vorstellungskraft vieler seiner damaligen Mitmenschen hinausging. Dafür sind Unternehmer und Unternehmen da, um latente Bedarfe aufzugreifen, Probleme zu lösen, innovative Durchbrüche für die Menschen zu realisieren. Das erfordert Vorausschau, Kreativität, Ideen, Mut und Beharrlichkeit.
Der Bedarf nach einem Wandel der Automobilindustrie ist nicht latent, sondern der Welt schon lange förmlich ins Gesicht gesprungen. Dennoch hat die deutsche Automobilindustrie protestiert, als in China die Zahl der Neuzulassungen limitiert und die Elektromobilität vorangetrieben wurde. Das zeugt vom massiven Verdrängen der erforderlichen Veränderungen und vom Denken vieler Manager, die in China nur einen großen Markt für ihre Produkte sehen.
Damit hat die deutsche Automobilindustrie das Steuer aus der Hand gegeben. Stattdessen hat der viel gescholtene Elon Musk mit seinem ungewöhnlichen Denken und Handeln eine globale Welle der Veränderung herbeigeführt. Er verfolgt große Ziele. Er inszeniert sich und seine Produkte auf ungewöhnliche Weise, eben jenseits der Norm, etwa mit Tanzeinlagen auf der Bühne. Warum gibt es solche Persönlichkeiten und Ideen nicht in Deutschland?
manager magazin Ausgabe 06/2020 – Titelseite
Wir sind ein Land, das an so vielen Stellen im Mittelmaß gefangen ist. Wer den Kopf aus der Schafherde hebt, wird schnell einen Kopf kürzer gemacht, zum Glück nicht mehr physisch, aber verbal. Das gilt für Menschen mit großen Ideen, für erfolgreiche Unternehmer, für viele Querdenker und Kreative. Denn wer anders ist, wird ausgegrenzt, wegen Täuschungen im Denken und in der Wahrnehmung. Hier schließt sich der Kreis.
Der Weg aus der Krise – Diversity lernen
Der Weg aus der Krise ist wie ein roter Teppich für Veränderungen. Eine schnelle wirtschaftliche Erholung hängt davon ab, dass die Entscheider in den Unternehmen ihre Denkweisen verändern. Das drückt sich in Diversity der Strategien aus, im Nutzen innovativer Ideen und unkonventioneller Vorgehensweisen. Viele Strategien für Wachstum und Erneuerung sind sogar lange erforscht und pragmatisch gangbar; so viel Neuland ist das gar nicht. Doch die Umsetzung ist und bleibt ein turbulenter Prozess, der Manager wie auch Mitarbeiter in ihrem ganzen Menschsein fordert – und eben Denkweisen bewegt.
Die Richtung für den Weg aus der Krise klar: Beiträge zum Lösen der brennenden Probleme dieser Welt leisten und die „Low Touch Economy“ gestalten. Das erzeugt automatisch Sinn. Dann entsteht auch wieder Vertrauen in das Wirtschaftssystem. Die Entscheider in den Unternehmen und der Politik tragen dabei eine besondere Verantwortung.
Doch es geht nicht nur um die Entscheider, „die da oben“. Es ist an uns allen, an jedem einzelnen Menschen, das Notwendige zu verändern. Wir sollten erkennen, dass jeder Gedanke und jede Handlung einen Unterschied macht. Jeder zählt und kann Großes bewegen. Wir sind ein freies Land mit viel Potenzial und fast grenzenlosem Zugang zu Wissen. Es ist höchste Zeit, diese vielfältigen Stärken und Chancen zu nutzen.
Ebenso ist es höchste Zeit, auch die weniger lauten und „unnormalen“ Stimmen zu hören, um neue Lösungen zu sehen und umzusetzen. Jedes Problem, das unterwegs auftaucht, darf bedacht werden und weist in Richtung Zukunft. Dieser Weg ist dann logisch gepflastert mit Innovation und zeigt sich in Wachstum und positiver Erneuerung. Das ist ein Weg, den es sich zu gehen lohnt.